Krumme Bäume, schiefe Wälder
Unsere kleine Reihe mit Baumgeschichten geht über das rein botanische Interesse an Bäumen hinaus und bezieht auch historische, künstlerische, politische, ökonomische und literarische Betrachtungen mit ein. Auch Überlegungen zu krummen Bäumen und schiefen Wäldern bleiben nicht beim dendrologischen Zugang stehen.
Dass Bäume schief wachsen, liegt zunächst einmal in der Natur der Sache.
Menschliche Eingriffe, die von ökonomischen Überlegungen gelenkt sind, haben zu der seltsamen, an Aufstellungen von Truppen erinnernden, Wuchsform des Spalierobstes geführt. Auch die holzverarbeitende Industrie ist an geraden Wuchsformen interessiert. Umgekehrt gibt es aber auch Bäume, die gerade aufgrund menschlichen Zutuns schief gewachsen sind.
Der krumme Wald, den man in der Nähe der Ortschaft Gryfino in Polen antrifft, kann aber nicht auf diese Weise entstanden sein. Denn diese Bäume sind etwa 40 cm über dem Erdboden um ca. 90° abgeknickt und wachsen dann zunächst gekrümmt, nach ein bis zwei Metern aber gerade nach oben. Von den ursprünglich etwa 400 Exemplaren findet man dort heute noch knapp 100 Bäume. Sie wurden in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gepflanzt, als das Gebiet noch zur damaligen deutschen Provinz Pommern gehörte.
Es gibt eine ganze Reihe von Theorien, die den eigenartigen Wuchs
dieser Bäume erklären wollen. Als Ursachen werden u. a. Naturkatastrophen, Magnetismus, Gift und der Bedarf nach gebogenen Hölzern im Schiffsbau bzw. der Möbelindustrie angeführt. Am wahrscheinlichsten dürfte die Theorie sein, dass ein Forstwirt von den jungen Bäume die Spitze absägte, die er als Weihnachtsbäume verkaufte. Dabei ließ er den untersten Ast stehen, der dann wiederum in die Höhe wuchs. Wahrscheinlich war beabsichtigt, daraus neue Weihnachtsbäume zu gewinnen, was aus unbekannten Gründen aber unterblieb.
Eine ganz eindeutige Erklärung gibt es hingegen für den Schiefen Wald in der Nähe der hessischen Stadt Eschborn, die im Südosten an Frankfurt und im Nordwesten an Kronberg grenzt. Eschborn gehörte bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts den Herren von Cronberg. Selbige sagten im Jahr 1389 der Reichsstadt Frankfurt die Fehde an. Es war die Zeit, als Ritter und Adel auf der einen Seite und nach Unabhängigkeit strebende Städte auf der anderen Seite häufig in Streit gerieten. In der folgenden bei Eschborn stattfindenden Schlacht, der sich auf Kronberger Seite u. a. auch Ruprecht von der Pfalz und die Grafen von Hanau anschlossen, unterlag Frankfurt den Taunusrittern. Die Stadt hatte viele Tote, Verletzte und Gefangene zu beklagen und musste ein immenses Lösegeld an die Kronberger zahlen, um die Geiseln freizubekommen.
Ein paar Jahre später kam es allerdings zu einem Bündnis- und Friedensvertrag zwischen den beiden Parteien.
Zur Erinnerung an dieses Geschehen haben 2014 die Künstler/innen Heike Mutter und Ulrich Genth auf dem Schlachtfeld, dem sog. Streitplacken, den „Schiefen Wald“ angelegt. Esskastanie, Vogelkirsche, Feldahorn und Hainbuche wurden in maximaler Schieflage gepflanzt und durch Stahlstützen stabilisiert. Die Achse in der Mitte der Anpflanzung verläuft in Richtung der ehemaligen Feinde: Kronberg auf der einen Seite, Frankfurt auf der anderen. Der schiefe Wald wirkt so, als würde er von einem schweren Ereignis – eben der Schlacht – niedergedrückt, allerdings wird er mit der Zeit immer mehr in die Höhe wachsen, und steht damit für die Überwindung der Feindseligkeiten.
Auch in der Literatur tauchen schiefe Bäume auf. Im Roman „Indigo“ von Clemens J. Setz treibt ein Baum sogar selbst seinen Schiefwuchs voran: „Direkt neben dem Hauptgebäude wuchs ein großer Baum schräg aus der Erde, wegstrebend vom Haus. Er sah aus wie ein Limbotänzer, der versucht, unter dem ersten Stockwerk durchzukommen.“ (Clemens J. Setz: Indigo, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, S. 175)
von Udo Fedderies