Verwandlungen
In der Natur ist die Metamorphose nicht ungewöhnlich. Bekannte Beispiele aus der Zoologie sind die Kaulquappen, aus denen Frösche hervorgehen oder Raupen, die sich über die Puppe zum Schmetterling entwickeln. Auch in der Botanik spricht man von Metamorphosen, wenn sich z. B. aus dem Grundorgan Wurzel je nach Lebens- und Umweltbedingungen Speicherwurzeln, Haftwurzeln, Stützwurzeln oder Saugwurzeln entwickeln. Dass menschliche Lebensformen in pflanzliche übergehen und umgekehrt oder menschlich-pflanzliche Mischwesen entstehen, kommt hingegen nicht so häufig vor.
Für gewöhnlich entstehen Bäume aus keimenden Samen. Der altrömische Dichter Ovid (43 v. Chr. - 17 n. Chr.) erzählt von einer Ausnahme: ein Baum geht aus einem Menschen hervor. Apollo, der Gott des Lichts, verliebt sich in die schöne Daphne, die seine Liebe nicht erwidert. Um dem ihr nachstellenden Gott zu entkommen, bittet sie ihren Vater um Hilfe, er möge ihre Gestalt verwandeln, mit der sie zu sehr gefiel. Schon befällt Lähmung ihren Körper, ihre weichen Brüste werden von harter Rinde umschlossen, ihre Haare werden Blätter, ihre Arme zu Ästen, die Füße zu Wurzeln, der Wipfel verdeckt ihr Gesicht. Aber auch so liebt Apollo sie noch und küsst ihr Holz, das vor seinen Küssen zurückweicht. Bildhauerisch dargestellt hat diese Verwandlung Lorenzo Bernini in seiner Marmorgruppe „Apollo und Daphne“, die in der römischen Galleria Borghese zu bewundern ist (Abb. 1). Auch die erste deutsche Oper, „Dafne“ von Heinrich Schütz (1585-1672), widmet sich dieser Metamorphose. Das gleiche Sujet hatte die erste Oper überhaupt: „La Dafne“ von Jacopo Peri (1561-1636).
Die Baumart, in die sich Daphne verwandelt, ist der Lorbeerbaum. Aus seinen Zweigen und Blättern flicht man den Kranz, der einem zu Ehrenden auf den Kopf gesetzt wird. Lorbeerkranz heißt auf Lateinisch laureatus, und ein mit ihm ausgezeichneter Dichter ist der Poeta laureatus.
In „Nicolai Klims unterirdische Reise“ stürzt der Protagonist beim Erkunden einer Höhle in die Tiefe. Nach einem langen Flug landet er auf dem Planeten Nazar, gleichsam einer zweiten unterirdischen Welt. Dort trifft er auf vernunftbegabte Baumwesen, die Potuaner. Sie bringen ihm ihre Sprache bei und unterrichten ihn in ihren Sitten und Gebräuchen. In Potu (~ Utop), einer Art Idealstaat, wurden die Unterschiede zwischen Adligen und einfachen Menschen abgeschafft, Bauern werden hochgeachtet und Frauen genießen die gleichen politischen Rechte wie Männer. Da Klim sich viel schneller als die behäbigen Bäume bewegen kann, wird er zum Hofläufer ernannt. Da er aber in Kopenhagen Examina in Philosophie und Theologie abgelegt hatte, fühlt er sich beruflich nicht wertgeschätzt und versucht durch das Einbringen eines Gesetzesentwurfs, wonach Frauen keine politischen und öffentlichen Ämter mehr bekleiden dürfen, seine geistigen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Das geht schief. Sein Vorschlag wird zurückgewiesen, da „die Natur nichts vergebens macht und das weibliche Geschlecht nicht umsonst mit herrlichen Gemütsgaben gezieret habe. Wir glauben, die allgemeine Wohlfahrt erfordere, daß man vielmehr auf die Vortrefflichkeit des Gemütes als auf das Geschlecht bei Besetzung der Ehrenstellen zu sehen habe.“ (1) Klim wird zum Tode verurteilt, dann aber begnadigt; er muss allerdings Potu verlassen. (Abb. 2)
Während sich bei Holberg Baumwesen gegen menschliche Übergriffe zur Wehr setzen und bei Ovid die Verwandlung eines Menschen in einen Baum die Rettung bringt, verwandelt sich bei Dalibor Markovic (* 1975) ein Baum in einen Menschen.
Eine heranwachsende Pappel wünscht sich „eine frei stehende Linde zu sein, inmitten der Weizenfelder unten im Tal, am Rand des Fußwegs, der zwei Feldabschnitte voneinander trennte“ (2), kurzum: ein Flurbaum. Aber es kommt ganz anders: davon genervt, als Pinkelbaum der Füchse zu dienen, verwandelt die Pappel sich, kurz bevor die Holzfäller kommen, unter Zuhilfenahme von ausgehärtetem Licht in eine menschliche Gestalt, besorgt sich im Dorf von einer Wäscheleine ein paar Kleidungsstücke, überwältigt den angetrunkenen Förster, erleichtert ihn um seine Schuhe und geht als Konrad Pappel in die Welt hinaus. Er erlebt zahllose Abenteuer, übt die unterschiedlichsten Berufe aus, übersteht Kriege, entkommt der Polizei, verliebt sich, zieht sich immer wieder vom Weltgeschehen zurück und ist dabei auf merkwürdige Weise mit Franz Kafka verbunden, dessen wohl bekannteste Erzählung „Die Verwandlung“ sein dürfte, in der der Angestellte Gregor Samsa eines Morgens nach einer unfreiwilligen Metamorphose als Käfer erwacht.
Sie verliehen den Bäumen menschliche Gestalt, Seele, Sinne und Geist und gaben ihnen Namen: Ask, der Mann, war aus der Esche entstanden, Embla, die Frau, aus der Ulme. Bäume wurden von den Germanen ganz besonders verehrt. Das zeigt sich auch darin, dass das ganze Universum als ein Baum von gewaltigen Ausmaßen und wunderbaren Eigenschaften aufgefasst wird: die Esche Yggdrasil. (Abb. 3)
Selbst ein Gott ist aus einem Baum hervorgegangen: Adonis, der in der griechischen Mythologie als Sinnbild der Schönheit und Fruchtbarkeit gilt. Seine Eltern waren Myrrha und deren Vater Kinyras. Somit war sein Vater auch gleichzeitig sein Großvater.
Myrrha hatte den Kult der Aphrodite, der Göttin der Liebe, der Schönheit und der sinnlichen Begierde, vernachlässigt, und wurde von ihr deshalb zur blinden Liebe zu ihrem Vater verurteilt. Diesen überlistet Myrrha und begeht mit ihm im Dunkeln Inzest. Als Kinyras von dem Geschehen erfährt, will er seine Tochter töten, aber sie kann fliehen, und die Götter verwandeln sie in eine Myrrhe. Nach Ablauf der Schwangerschaft gebiert der Myrrhen-Baum Adonis, der später zum Geliebten von Aphrodite werden sollte. (Abb. 4-6)
von Udo Fedderies
Literatur und Bildnachweis
(1) Ludvig Holberg: Nicolai Klims unterirdische Reise, Leipzig 1985, S. 137
(2) Dalibor Markovic: Pappel. Die Geschichte eines Herumtreibers, Berlin und Dresden 2021, S. 18
(3) Die Bibel. Gute Nachricht. Altes und Neues Testament, Gütersloh/München 2006, S.
Abb. 1: Bernini - Von Architas - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=75895896
Abb. 2: Clemens - Von Johan Frederik Clemens (1749-1831) - https://iip-thumb.smk.dk/iiif/jp2/kksgb5935.tif.reconstructed.tif.jp2/full/!2048,/0/default.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=99449433
Abb. 3: Von Lorenz Frølich - Published in Gjellerup, Karl (1895). Den ældre Eddas Gudesange. Photographed from a 2001 reprint by bloodofox (Diskussion · Beiträge)., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5288741
Abb. 4: Picard - http://www.uvm.edu/~classics/slides/c065.jpeg (see main page), Domaine public, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1139316
Abb. 5: Desplace - https://wellcomeimages.org/indexplus/obf_images/44/b6/a2c166bc8776828b75cccce9fefa.jpgGallery: https://wellcomeimages.org/indexplus/image/V0014972.htmlWellcome Collection gallery (2018-03-31): https://wellcomecollection.org/works/uvctt63v CC-BY-4.0, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36489672
Abb. 6: Guercino - Von Guercino? - https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/JGZO6EJOJNCDWF5H3LKIYVKNGVQUSKNY, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=62501431
Abb. 7: Von Grubernst - Eigenes Werk, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22274083