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Wohnen in Bäumen

„Hinter eines Baumes Rinde / wohnt die Made mit dem Kinde“ dichtete Heinz Erhardt. Als die Made ausgeht, findet ihr Kind sein Ende im Magen eines Spechtes. Mit Made und Specht bringt uns Heinz Erhardt schon zwei Baumbewohner näher, zwei von Tausenden. Die Website animalia.bio listet 3295 Spezies auf, die den Baum als Wohnort gewählt haben. Der Mensch ist nicht darunter. Aber gerade er interessiert uns hier.

Wenn Erich Kästner in seinem Gedicht „Die Entwicklung der Menschheit“ reimt: „Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt / behaart und mit böser Visage“ dann kann sich das nicht auf den Menschen beziehen, sondern auf Hominiden, unsere als Menschenaffen bezeichneten Vorfahren. Der Australopithecus, der vor etwa 4 bis 2 Millionen Jahren lebte, hatte bereits die Fähigkeit zum aufrechten Gang, hielt sich aber dennoch häufig auf Bäumen auf, auch zum Schlafen. Auf den Homo sapiens trifft dies aber nicht mehr zu.

Dennoch hat es immer wieder Vertreter des modernen Menschen gegeben, die auf diese frühe Wohnform ausgewichen sind. Italo Calvino erzählt von Cosimo di Rondò, der in der zweiten Hälfte des

18. Jahrhunderts als Sohn eines Barons im Königreich Genua lebte. Genervt von seiner Schwester flieht der Zwölfjährige eines Tages von der Essenstafel und steigt auf eine Steineiche. Allen Versuchen seiner Familie, ihn wieder von dort herunterzubekommen, widersetzt er sich. Zunächst wohnt er in der hohlen Eiche, aber mit der Zeit bewegt er sich eichhörnchengleich von Baum zu Baum und richtet sich in der dicht bewaldeten Gegend in den Baumkronen häuslich ein. Er legt eine Wasserleitung, verfügt über eine Feuerstelle, nennt eine umfangreiche Bibliothek sein eigen und legt sich einen Hund zu. Die Kunde von seinem unkonventionellen Leben dringt auch ins Ausland. Er steht in brieflichem Kontakt mit Diderot, dessen Enzyklopädie er studiert hat, lernt aber auch einen berüchtigten Räuber kennen, den er mit Lektüre versorgt. Auch das Glück der Liebe erfährt er. Seine Favoritin aber ist nicht bereit, zu ihm zu ziehen. Mit seinem Lebensraum beschäftigt er sich auch wissenschaftlich, erweitert seine Kenntnisse der Bäume, gibt sein Wissen weiter und engagiert sich für den Schutz der Wälder. Dies macht ihn zum Vorfahren heutiger Baumbewohner, die um den Erhalt natürlicher Lebensräume kämpfen.
Abb. 1: Baumhäuser im Hambacher Forst, Foto: MaricaVitt (118)

Bundesweit bekannt geworden ist eine Umweltschutzbewegung, die um den Erhalt des Hambacher Forstes kämpfte. Dieser in Nordrhein-Westfalen gelegene Wald wurde seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach und nach gerodet, um dort im Tagebau Braunkohle abzubauen. Um weitere Rodungen zu verhindern, agierten Gegner der Kohlekraft-Nutzung auf verschiedenen Ebenen: juristisch mit Klagen, politisch mit Informationsveranstaltungen, Stellungnahmen und Demonstrationen sowie als direkte Aktion vor Ort mit Sitzblockaden, Besetzungen und dem Errichten von Baumhäusern.

Baumhäuser haben den Zweck, Rodungen zu verhindern, zumindest aber sie zu verzögern. Man spricht daher bei diesen Bauwerken auch von Verzögerungsarchitektur. Im Hambacher Forst entstanden ab 2012 mehr als 50 dieser mit Seilen befestigten Bauten, zum Teil untereinander verbunden durch Seilwege und Hängebrücken in zum Teil mehr als 20 m Höhe. Mit der Argumentation, dass die Baumhäuser bauliche Anlagen seien, die gegen brandschutzrechtliche Vorschriften verstießen, ließ die NRW-Regierung 2018 die Baumhaussiedlung von der Polizei räumen.

Ähnliche Bauten entstanden auch in vielen anderen Protestcamps, z. B. in Lützerath am Tagebau Garzweiler II, im Dannenröder Forst östlich von Marburg oder im Fechenheimer Wald in Frankfurt am Main; die beiden letztgenannten richteten sich gegen Straßenbauprojekte. Immer sind vor Ort vorgefundene Materialien für den Bau verwendet worden, und es sind phantasievolle, zum Teil mehrstöckige Gebäude entstanden, in den gewohnt, geschlafen, gegessen und Versammlungen abgehalten wurden.

Unabhängig von Umweltschutzanliegen werden auch heute noch von einigen indigenen Völkern in Afrika, Asien und Südamerika Baumhäuser errichtet, um Widrigkeiten am Boden zu entgehen.

Und wie so oft fand auch auf diesem Gebiet eine Kommerzialisierung statt. Inzwischen gibt es etliche Hotels, die Übernachtungen in Baumhäusern anbieten.

Letztlich bieten Baumhäuser auch Rückzugsmöglichkeiten für Kinder, die ihren Erziehungsberechtigten aus dem Weg gehen möchten. Am bekanntesten ist wohl das Baumhaus von Tick, Trick und Track, in das sie sich auf der Flucht vor ihrem cholerischen Onkel Donald Duck zurückziehen.

​von Udo Fedderies